Moderne Gewissenerforschung

Im jüngsten Roman der zeitgenössischen Autorin Sibylle Lewitscharoff habe ich eine Passage gefunden, die sich hervorragend für die persönliche Gewissenserforschung in der Adventszeit eignet, sei es um eine private Bußandacht zu begehen, sei es um sich auf die Weihnachtsbeichte vorzubereiten. Die Romanfigur hält, wie mir scheint, in einer typisch heutigen Mentalität strenge Gewissenserforschung. Was zu individuell auf die Romanfigur zugeschnitten ist (die Sätze zur „Mordlust“), kann man übergehen. Der Rest trifft weitgehend auf uns alle zu. Der Herr schenke uns aufrichtige Reue, Vergebung und Trost, und wirkliche Besserung des Lebens.
Hier also der Abschnitt aus Sibylle Lewitscharoff, Von oben, Berlin: Suhrkamp 2019, 14f.

„Vielleicht spricht einzig und allein für mich, daß ich meist redlich versucht habe, mir meine Sünden möglichst lebfrisch vor Augen zu halten. So gut es eben ging. Manch kleinere Sünde mag mir dabei entgangen sein. Die, die zählen, hoffentlich nicht. Gut möglich, daß ich der Selbsttäuschung erliege, ein besonders gründlicher Sündenbohrer gewesen zu sein. Wie auch immer, zu wissen, was man getan hat, heißt jedenfalls noch lange nicht, daß man ähnliches nicht sogleich wieder tut. Diese bittere Erfahrung habe ich mehrmals gemacht.
Woraus bestehen meine Sünden? Aus Geschwätz. Aus so manch übler Nachrede, aus unbezwinglicher Klatschsucht, Selbsterhebung unter dem Deckmantel der Bescheidenheit, mangelnder Hilfeleistung (eingreifen, wo ich hätte eingreifen können), aus Besserwisserei, ja auch aus Diebstahl in der Pubertät. Vergessen sei nicht die Mordlust, ausgemalt in bohrender Schwärze in so gut wie allen Lebenslagen. Wie oft habe ich daran gedacht, mir eine Kalaschnikow zu besorgen und damit jemanden, wie es so kraß heißt, eiskalt, effektiv und ohne Reue umzunieten. Natürlich nur Leute, die das verdient hatten, denn ich war ein moderner Robin Hood, ein Rächer der Armen und Geschundenen. Unter dem Phantasiemäntelchen der Gerechtigkeit und unbesiegbaren Stärke tobten sich meine wüsten Begierden aus. Doch womöglich ist mein Sündensumpf viel größer, als ich zu erkennen vermag, gefüllt mit einer schwammigen Sättigung aus Selbstsucht, Überdruss und Weinerlichkeit.“