Es geht nicht ganz ohne Gott

Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche Deutschlands haben wieder gemeinsam die Austrittszahlen veröffentlicht: neuer Rekord, und beide Konfessionen gleichermaßen betroffen. Viele sind offenbar der Meinung, es gehe auch ohne Kirche. Zur Deutung dieser Situation will ich ein Gedicht aufgreifen, in dem mich besonders die Zeile anspricht: „… wenn er – Gott – sich nie wieder zeigt“. Ja, das ist die Situation. Die Kirche war halt der Raum, in dem Gott vorkam in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur, wo er sich gezeigt hat. In dem Maß, als die Kirche bedeutungslos wird, verblasst Gott. Er zeigt sich nicht mehr.

Wir haben ein paar Jahrzehnte Zeit,
um den Glanz der Dinge zu sehen,
und manche von uns haben den Ehrgeiz,
ihn noch zu vermehren: für sie
ist der Kiesel mehr als ein Stein
im Munde der Philosophen,
und der Nebel, der den Paß verstopft
zwischen Süden und Norden, mehr
als das graue Echo einer langen Nacht.
Es geht nicht ganz ohne Gott,
auch wenn er sich nie wieder zeigt,
um für den Glanz auf den Dingen
Erbarmen zu fordern wie für Kinder.

(Michael Krüger, „Für Claudio Magris“, in: Communio 49 (2020), 347)

„Was fehlt, wenn Gott fehlt?“, ist eine bekannte Frage. Das Gedicht weiß eine Antwort. Es fehlt der, der Erbarmen fordert für den Glanz auf den Dingen, also Achtsamkeit auf gewisse tiefere Bedeutungen und auf Sinnbestimmungen der Dinge. Wie Kinder einen Schutzraum brauchen, um aufzuwachsen – und Kinder sind ja die Zukunft einer Gesellschaft, so brauchen die Dinge einen Schutzraum, um nicht total vereinnahmt zu werden von der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Rationalität, die sie unbarmherzig verobjektiviert, verzweckt und verwendet. Sie können ihren „Glanz“ nicht von selber aufrecht erhalten, sie brauchen dazu ein „Erbarmen“ im Umgang mit ihnen. Und jemand, der dieses Erbarmen fordert. Ich pflichte bei: „Es geht nicht ganz ohne Gott.“ Das gilt selbst dann noch, wenn es ist, wie es ist, nämlich dass er sich immer weniger, womöglich nie wieder zeigt. Weil man ihm seine Kirche genommen hat.